Streng geheim! Kapitel 3 – Boxenstopp

Der nächste Morgen unterscheidet sich nur durch den dicken Kopf und dem Brauereimuff vom Abend davor. Die Luft war knochentrocken. Der Rachen schmerzt. Auslosen, wer zuerst ins Bad darf. Der Durchzug wird wieder geöffnet und die Lumpen eingesammelt – steht ja überall FIRMA drauf. Es zieht und klappert wieder um die Wette. Eine Mischung aus Öldampf und abgestandener Luft breitet sich im Zimmer aus. Jede Ecke ein anderer Geruch. Volker ist kurz vorm Platzen und schlurft zur Mannschaftstoilette.

Frühstück muss sein. Wir haben die zweite Etappe mit knapp 600 km vor der Stoßstange. Das Wetter sieht nach hinterm Ofen verkriechen aus. Der Kahn dockt an, alles hastet zu den Fahrzeugen – und wir haben einen platten Vorderreifen. Wechseln auf dem Schiff geht nicht, die anderen wollen ja auch raus. Also rausgehumpelt und dann vor den mitleidigen Augen der Zöllner das Ersatzrad im Kofferraum freigraben. Wir erinnern uns: Das gesamte Equipment ist dabei und der Kofferraum war nicht gerade leer. Auf dem Grunde erscheint ein Rad – ein Sommerrad, wenigstens nicht ganz luftleer. Werkzeug ist irgendwo vorne verstaut. Vier Mann stehen dumm rum, einer schafft. Händewaschen ist nicht, lumpensauber reicht. Was mit Lappen nicht weggeht, geht an der Hose auch nicht weg. Los geht’s. Keine Zeit und keiner versteht schwäbisch, noch 600 km und Schneeregen mit viel Kalt.

Nach 30 Meter Fahrt in Schweden, die Zöllner haben jetzt Zeit für uns. Irgendwann sind die Zöllner perfekt in ABS, Messtechnik und Testfahrzeug. Wir wissen mittlerweile auch, was wir wo eingepackt haben. War so ´ne Art Inventur mit Zöllnerschulung. Zwei Stunden später kommen wir dann los und eine gewisse Gleichgültigkeit macht sich breit.

Richtung Falun – Schneematsch, gemischt mit Sand und Wasser verdünnt, Dämmerlicht, Nebel, gute Laune vom Radwechseln und Zöllnerplausch. Wenn Du mit Hänger hinter einem LKW hängst, bist Du das Ziel von jedem Krümel, das der da vorne aufsammelt und damit Deine Front bewirft. Die Scheibenwascher sind im Dauereinsatz und – logisch – bald leer. Wir begrüßen die hochentwickelten Schmischer. Das sind Scheibenwischer, die schmieren und wischen gleichzeitig. Aber wenn man an den Truck ganz nah ranfährt, ist die Soße noch genügend nass, um den Dreck auf der Scheibe aufzulösen und kleine Guckstreifen freizugeben. Es kommen Gedanken auf, den Wasservorrat mit dem Bier von gestern aufzufüllen, aber eine der seltenen Tanken taucht auf. Wieder nichts Spektakuläres. Nach der Tanke ist der LKW weg und wir kämpfen uns gegen das Schneegestöber gen Norden.
Mittlerweile ist es richtig dunkel. Schneeflockenzählmeisterschaft, es schneit waagerecht auf uns zu, kronengroße Stücke, die sich gegen die Frontscheibe stürzen, um zu schmelzen. Einige schaffen den Schwung übers Dach. Fernlicht macht einen weißen Vorhang und das Abblendlicht scheint ´ne Laterne zu sein. Nebellicht macht die Straße fünf Meter hell, breit, aber nicht die Ferne. Der Hänger beginnt ein Eigenleben bei jedem Gaswegnehmen, das heißt: Draufbleiben, denn keiner weiß, was passiert, wenn der Hänger nach vorn will und schauen, wer da ist. Der Scheibenwischer verbrüdert sich zusehends mit dem Schnee und nach fünf Kilometern geht nichts mehr. Blindflug, Parkbucht finden, Wischen, Kratzen. Draußen ist es „Hintern“-Glatt und Felix, unser Busfahrer, der schön hinterherzuckelt meint, halt die Schnauze, sonst fahren die noch langsamer. Wenn es wenigstens eben und geradeaus ginge, aber wir fahren durch die Schweiz von Schweden. Zwar kein Mensch unterwegs, wohin auch, aber jede Kurve aus Schweden ist hier, für uns exklusiv.
Wenigstens sind die Trucks weg. Ein Omen? Bei dem Wetter geht kein Hund vor die Türe, aber wir. Nacht der langen Messer. Der Hänger gibt nicht auf, sich dauernd zu melden. Sch…sskarre. Ich häng dich ab und mach einen Versicherungsschaden aus dir.

Falun, Sara-Hotel-Grand, ein Nobelhotel aber nichts zu essen und wieder Bierpreise für Millionäre. Zehn Uhr, immer noch kalt und hungrig. Das Schneegestöber lässt melancholische Gedanken aufkommen, aber der Chinese im Ersten Stock hat noch auf und Konzession. Der Weihnachtsbaum hängt noch an der Decke und wir sind die einzigen. Die Bedienung ist so was von freundlich, aber schließlich gib’s noch was.
Das Essen wird uns die ganze Nacht begleiten, trotz Ruhe, kein Gegrummel und immer das ewige Bierwegbringen und die Rückmeldung der Nummer 36: Schweinefleisch-süß-sauer.
Mit PommFritz – Reis war aus. Bier aus Weingläsern, man fängt an zu lernen. Und Schneeflockenzählen. Ich will heim.

Der nächste Tag – ein Gedicht. Nicht mehr heim, dann eben weiter. Minus 10, Sonne pur und jede Menge Trucks vor uns. Ja, irgendwo müssen die ja sein. Wir schleichen uns auf der E4 nach Norden. Krähen begleiten uns am Fahrbahnrand, auf den Leitplanken muss die Freiheit doch grenzenlos sein. Beim näher ranfahren springen sie auf, drehen eine Runde und setzen sich – der Rückspiegel ist Zeuge – wieder hin und warten auf den nächsten Doofmann, der ihre Ruhe stört. Wenn der Truck wenigstens eine interessante Werbung hinten drauf hätte? Hat er vielleicht auch, aber alles mit Schnee verklebt, bis zur Stoßstange und den Rücklichtern, die sich hinter dicken Schneemannarmen verstecken. Null Sicht.

Irgendwie wirkt die Straße breiter. Es hupt hinten und der Porsche frisst sich auf der linken Seite mit Dauerblinken nach vorne. Ritter des Wahnsinns, es ist soweit.
Als er uns passiert, schaut uns Unverständnis an. Vielleicht sind wir wieder zu langsam? Der Porsche ist vorbei und bleibt auf der linken Seite, – verstanden! – links rüber und vorbei. Der Trucker hat Mitleid und geht vom Gas. Alle vorbei, der Hänger war friedlich. Freie Sicht bis zum Pol! Fernlicht.

Mist, der Stress lässt nach, ich muss Gassi, immer noch das Bier von gestern und der Eimer Kaffee vom Frühstück. Anhalten ist nicht, sonst sammeln wir den Truck wieder ein. Ingenieure rechnen. Wie viel schneller und wie groß muss der Abstand zu dem Truck sein, dass wir uns einen Boxenstopp erlauben können. Die Hatz beginnt, die andern begreifen auch, dass es schneller gehen könnte. Lichthupe vom Hintermann mit eindeutigen Zeichen, dass auch er an einem Stopp interessiert ist, also „give pedal guys“. Nach einer gefühlten halben Stunde ohne weiteren Truck aufzusammeln, naht die Parkbucht der Erlösung. Entwässern in einer viertel Minute. Da muss die Hose vorher schon offen sein und raus und hm und wieder rein und wird auch erst im dritten Gang wieder zugemacht. Der Truck erscheint formatfüllend im Rückspiegel. Andere wechseln in zehn Sekunden Räder, wir bringen Kaffeewasser weg – kalkuliert und ingeniös, aber auch zu fünft – Boxenstopp synchron. Der Trucker grinst in unseren Rückspiegel und nimmt die nächste Parkbucht. Wenn wir das geahnt hätten, aber dann hätten wir ja auch nichts zu erzählen.

Wieder an der Zeit, etwas zu erklären:

Wir sind die Vorhut, die anderen kommen nach. Unser Aufenthalt ist für drei Wochen geplant, dann kommen Kunden und der eine oder andere Boss und die Ablösung. Im März stoßen dann noch die Jungs vom Truck-ABS dazu. Sie kommen später, weil dann das Eis dicker ist für die schweren Fahrzeuge. Vielleicht fliegen Einer oder Zwei zwischendurch heim und andere Kollegen kommen, aber mehr als sieben oder acht sind wir nicht. Jeder hat seine Aufgaben dabei, neben den üblichen Vorbereitungen.

©Jürgen Zechmann