Streng geheim! Kapitel 26 – Ich war eine Schiene

Wie schon mal irgendwo erklärt, haben wir innovative Bremssysteme erforscht. Und zum Erforschen braucht man Aggregate, Hydraulikaggregate. Das sind Anhäufungen von Ventilen, die an einen Aluminiumblock angeschraubt sind, der wie eine Termitenburg mit Bohrungen ausgehöhlt war, um die Ventile schlau miteinander zu verbinden, damit sie den Bremsdruck in den einzelnen Radbremsen halten, erhöhen oder absenken können. Die Elektronik gibt dazu die notwendigen Ansteuerbefehle in Form von Stromimpulsen. Verstanden? Na also.
Damit das alles nicht so einfach wird, ist in dem Alublock noch ein Hauptbremszylinder integriert, damit man Bauteile spart und der Klotz alles kann, Druck machen und modulieren.
In der Erklärung da oben war ein Wort, das man jetzt braucht „Druck halten“. Das heißt, das angesteuerte Ventil verhindert jedwede Druckveränderung im Radbremszylinder und da steckt auch einer unser Druckaufnehmer, der das Ganze misst und auf dem berühmten Fotopapier anzeigt.
Nun hat sich ein kleines Fehlerlein eingeschlichen, das genau diese Funktion korrupt unterlief. Druckhalten geht nicht mehr. Also wieder antreten zum Fehlerfinden. Pläne werden gewälzt und unter Nikotin heftig diskutiert. Es fand sich dann ein Freiwilliger, ein kleiner Stift, etwa 6 mm lang und 1mm Durchmesser. Und da sitzt der Teufel im Detail. Der Millimeter muss genau ein Millimeter sein, und hinter dem Komma noch ein bisschen. Wo finden wir Ersatz? Einfach, jeder Millimeterbohrer hat einen Durchmesser … aber die Bohrung, in der dieser Stift steckte, war mittlerweile etwas mehr als ein Millimeter. Nix mit Bohrer. Die nächste Größe war zu dick.
Wieder mal Engineering. Material? Ich hab gelernt, dass Eisenbahnschienen in etwa das Material sind, das wir brauchen. Genau, deshalb gibt’s in Arjeplog keine Eisenbahn. …
David hat wieder mal geholfen. Er kennt da einen, der einen kennt, der eine Schlosserei hat.
Und so sind wir Sonntag morgens – anstatt Kirche – zu zweit losgezogen, mit hochgenauem Messwerkzeug und viel Zuversicht und haben uns in die Schlosserei geschlichen, wie Einbrecher. Schlüssel? In Arjeplog wird nix abgeschlossen. Wer abschließt, hat Geheimnisse. Drinnen roch es vertraut nach Eisen und Öl. Aus einer Ecke quäkt ein Radio. Schalter sind zu teuer. Deshalb der Dauerlauf – wie unser Kassettengerät im Keller. Messiwerkstatt. Schrottabladeplatz der Vergangenheit. Weiter hinten durch ein Gewirr von Material, einer aufgebockten Schneepflugschar mit einem Riss im Schild, verschiedenen teilzerlegten Fahrzeugen und Bearbeitungsmaschinen wie Bohrwerke, Gasflaschen zum Schweißen, ein Ölkännchen, durchgegriffener Lederhandschuh, Drehbänke unterschiedlichster Art und Größe: „Die passt“ „Auweh, die geht ja zum Eisenbahnwaggonwellen abdrehen.“ In einem der vielen diversifizierten Lager findet sich leider kein Bohrer, der uns geholfen hätte, aber nach weiterer Suche ein Stück Eisen, vielleicht war es mal eine Schiene. Auch eine Eisensäge und Feile – man findet hier alles, man muss es nur finden, eine Frage der Ausdauer, Phantasie und Geduld. Irgendwann haben wir ein Stück gesägt, gefeilt weißdergeier was alles noch, bis es annähernd rund war zum Einspannen in die monströse Drehbank. Beim Einrichten des Werkzeugstahls merkte ich, dass die Führung wackelte wie ein Lämmerschwanz. Sollte normalerweise kein Spiel haben, weil wir ja einen Stift mit einskommanullfünf Millimetern brauchten. Also Nachsetzen ging nicht, heißt abdrehen, messen, zustellen, abdrehen geht nicht. Ergo ging alles nur auf einmal. Es gab bei einer Einstellung keinen zweiten Versuch. Nullkommanullfünf Millimeter Veränderung ging mit einem Hammerschlag von oben auf den Drehstahl. Oder einfach ein zweiter Versuch ohne was zu verändern. Einer hat gedreht, einer hat Rohlinge „gemacht“. Warum beschreibe ich das so langatmig, weil’s so langatmig war. Gegen Spätnachmittag hatten wir dann endlich einen Stift, der unseren Ansprüchen weitgehend genügte. Vorsichtig eingepackt und zurück zum Hotel, in die Garage. Ganz stolz hat der Kollege den Stift mit der Pinzette aus der Tüte geholt und zwäng – weg war er – irgendwo in den Falten der Garage verschwunden – der Stift! Nach einer Stunde Suchen haben wir aufgegeben und den alten Stift wieder eingebaut, nachdem wir ihn mit einem kräftigen Hammerschlag etwas gestaucht (er wurde dadurch vielleicht etwas dicker? ) hatten. Und siehe da, es war fast dicht. Warum nicht gleich so? Naja, man versucht es eben erst auf die Einfache. – wieder ein Sonntag weg.

„Das ist Medizin“

Stockholm Arlanda, Einreise, Zollkontrolle. Unser sächsischer Kollege hat eine Palette deutsches Bier vom Billigdiscounter im Handgepäck – das waren Zeiten, da konnteste ne Kalaschnikoff im Hangepäck haben, das hat keine Sau interessiert – der Zöllner fragt freundlich, ob’s was anzumelden gäbe. Die Antwort war nein, aber die Beulen im Rucksack sprachen ne andere Sprache. Aufmachen bitte. Erstaunte Blicke fragen. Man muss wissen, Alkohol nach Schweden einzuführen ist wie gefallene Engel in den Vatikan reinzuschmuggeln. Zöllner haben Kollegen und die scharen sich zu der Szene. Es wirkt bedrohlich. Der Ton ist harsch und bestimmt. Erst auf Schwedisch und nach unseren dumm fragenden Gesichtern herablassend auf Englisch:
„What is that?“ „Medizin!“ „No, Beer!“ „NO Medizin – ich brauche das, ich bin Alkoholiker und wenn ich kein Bier bekomme … “ „Where ‚re you goin to?“ „Arjeplog. Biltestare!“ (Autotester!) Stimmungserhellung in einer Millisekunde „Jahaaah, then it’s OK“.

Geht doch. Fünf Schritte weiter wechseln fünf Mark den Besitzer – Wette gewonnen.

Es geht ein Fass auf die Reise

Es ist ja mittlerweile bekannt, dass Bier da oben so dünn wie die Luft und so teuer ist. Ergo muss ein Fass mit 50 Litern heimisch Gebrautes da hin. Geburtstagsfete. Dicke Backen einlösen.
Es stand in der Zeitung, dass die Schweden ihre Einfuhrbestimmungen gelockert haben, jeder Erwachsene durfte bis zu hundert Liter Bier oder … der Rest ist uninteressant … einführen. Jah!, geballte Faust nach oben, den Ellenbogen in die Hüfte und rechts Knie anziehen!

Wir sind mal wieder mit unseren Fahrzeugen unterwegs, diesmal auf dem Beifahrersitz nicht ein Messaufbau, sondern das Fass. Schön angeschnallt, wohlig warm und abgedeckt mit Gewebtem. Auf dem Schiff hatten wir schon Angst, dass das Fass Füße bekommen könnte, aber alles gut gegangen, ebenso beim Zoll in Göteborg – die kannten uns schon. Zöllnerbeschäftigen mit Carnets.
Zur Mittagspause gaben wir uns ne halbe Stunde, grade so lange, dass das Fahrzeug nicht auskühlt. Frierendes Fass bekommt Schnupfen.
Die erste Übernachtung im Grand Hotel Sara in Östersund steht an. Wir fragen freundlich das Mädel an der Rezeption nach einer Sackkarre. – Zum Verständnis, das „Grand“ im Namen hatte schon seinen Grund. Haben wir bei der Buchung aber immer verschwiegen . – Nach einer Weile versteht sie uns und ruft den Hausmeister, der uns eine bringt. Verwundert läuft er uns nach zum Auto und noch verwunderter sieht er uns ein Fass aufs Zimmer transportieren. Das Mädel von der Rezeption hatte große blaue Augen und ihre Locken umbaumelten sie verspielt, als sie den Kopf verständnislos geschüttelt hat.
Am nächsten Morgen war ihre Kollegin schon gebrieft, denn sie brachte uns ungefragt und breit schmunzelnd die Sackkarre hinter dem Tresen vor. Fassumzug, durchs halbe Hotel am Frühstücksraum vorbei, an der Rezeption vorbeiflanieren, als Eskorte zwei Herren in Daunenanoraks. Man hätte es ja abdecken können, aber wir wollten einer Diebstahlsvermutung zuvorkommen und zeigen, was wir verlagern.
Das Fass kam deshalb heil ohne Schnupfen an und als es ans Anstechen ging, stellte der geknickte Ingenieur fest, dass das Fass eine spezielle Vorrichtung benötigt, um ans Bier ranzukommen. Wer in den Semesterferien inner Kneipe gearbeitet hat, war hier klar im Vorteil, aber nicht jeder findet einen Ferienjob, der zukunfsorientiert ist. So haben wir das Fass eben unten angebohrt, eine Hydraulikverschraubung eingepasst – hast du schonmal unter Bierdruck ein Gewinde in ein Fass geschnitten? – und so gezapft. Engineerisch. Nun weiß wiederum der Barmensch, dass das ganz spezielle Fässer sind, aus Edelstahl, heiligen Innereien und mit hohem Pfand belegt. Es kam wieder mal der Schwabe durch und so fand das Fass seinen Weg zurück in die Firma, wo uns die Firma-Schlosserei für eine Flasche Vergorenes das Loch wieder zugeschweißt hat. Wenn man es nicht wusste, ist einem nix aufgefallen.

©Jürgen Zechmann