Streng geheim! Kapitel 15 – Unterm Schnee geht‘s weiter

Irgendwann zieht es jeden nach dem berühmten Arjeplog. Jeder sucht nach Gründen und Gelegenheiten, will selbst in die Legenden einziehen.
Wieder etwas zum Erklären.

Mit der Zeit verlängerten sich die Wintererprobungen auf zehn Wochen und anschließend wollte keiner der Jungs noch drei Tage heimfahren. So kamen aus einer Abteilung der Firma, ein paar Jungs hochgeflogen und fuhren dann den ganzen Tross wieder heim. Mittlerweile sind zwei Trucks, beladen mit drei PKW und drei oder vier Fahrzeuge „auf Achse“.

Natürlich kamen die Jungs etwas früher und besahen sich einigen Tage die Gegend. Wintererfahrung null, Schwedenerfahrung Nullnull.
So lernt jeder, der hier ein Auto bewegt, dass man NICHT bis an die Schneegrenze der Straße fahren darf, weil der Schneepflug immer mehr räumt, als die Straße breit ist. Also ist unter dem Schnee am Rand keine Straße, sondern schon Graben. Wenn man dort entlangfährt passiert zunächst nichts. Aber beim Anhalten macht es krrcht und das Fahrzeug lehnt sich genüsslich an die Schneewand, die der Pflug glatt wie ein Spiegel hinterlassen hat und hängt wie ne Pik 7 am Graben fest. Jeder Versuch der Selbstbergung wird mit weiterem Einbuddeln des Havaristen beantwortet. Erdanziehung wirkt hier nicht nur senkrecht. Ist belegbar.

Der erste, war der Scheff der Fahrzeugaufsicht selbst. Sein dienstbeflissener Kollege wollte zu Hilfe eilen, parkte auf der gegenüberliegenden Seite und krrcht – selbes Schicksal. Als die zwei sich so beraten, wie sie ungesehen aus der Lage rauskämen, kommt noch der Dritte … krrcht.audigraben135
Es hat sich mittlerweile rumgesprochen und der Helfer aus unserer Werkstatt trifft mit geeignetem Fahrzeug und respektvollem Abstand zum Rand ein und sondiert die Lage. Sein Beifahrer beginnt sofort mit Verhandlungen über fällige Gegenleistungen in flüssiger Form zum Abendessen oder danach. Ein Schwede kommt daher geschlichen, lockert das ganze Geschehen etwas auf und fragt durch den kleinen Spalt seines der Kälte entsprechend wenig geöffneten Fensters, ob es Verletzte gibt und ob er bei der Polizei oder dem Krankenhaus Bescheid geben soll. – Kommunikation war noch von Mensch zu Mensch! Man redete noch mit Lebewesen, nicht mit handtellergroßen Plastikteilen.
Als er die Lage erkennt, schleicht er sich kopfschüttelnd weiter.

Der Automatismus

Nun hab ich immer mal wieder den Automatismus angesprochen, jetzt ist es soweit.

Wenn man ein Hotelzimmer betrat, kam man erst in einen kleinen Gang, da war seitlich eine Türe zur Nasszelle, das weit vorne beschriebene Sitzduschstehklobad mit fließend Wasser. Zwei Schritte weiter, also dann „hinter“ dem Bad, ein Bett, das fest mit der Welt verbunden ward. Drüber ein weiteres Bett, auch weltgebunden, das aber runterschwenkbar, an die Wand geklappt die Rückenlehne des unteren Bettes zu einem Sofa macht. Damit die Lehne nicht ganz senkrecht steht, gibt es hinter dem runtergeklappten Bett ein Brett, das man auch wieder hochklappen konnte und das so hinter dem Bett für Abstand zur Wand sorgte. Das Teil hat auch ne Fehlfunktion, die irgendwo am Anfang schon mal beschrieben ward. Hochklappen geht ingeniös. Man muss mit der einen Hand das Bett hochstemmen und mit der anderen je eine unter dem oberen Bett verborgene Stange rechts und links runterklappen und in die im unteren Bett vorgesehenen Löcher in den vorderen Ecken stecken. Geht das schief und es verlässt einen die Kraft, fegt es den Nachbarn aus dem Schlaf und schüttelt alle Bilder an den Wänden wieder grade. Nur Feiglinge holen sich Verstärkung. Außerdem ist das obere Bett ganz geschickt, man kann dort alles abladen, was unten im Weg ist oder nicht mehr auf den Stuhl passt.

In der gegenüberliegenden Zimmerecke ein kleiner Tisch vor dem Fenster, das schlauerweise nicht geöffnet werden sollte, da man beim vergessenen Schließen einen Kühlschrank als Zimmer hatte, ein Stuhl, der meist unter Altwäsche vergraben war, die nicht aufs obere Bett passte. Gegenüber des Bettarrangements ein Schreibtisch mit Stuhl. Freie Fläche rund vier Quadratmeter.

Automatismus kann spontan beginnen, hat aber oft seinen Ursprung in ungesättigtem Flüssigkeitsbedarf am sehr frühen Mittwoch- Sonntagmorgen. Die Betonung liegt auf sehr früh.

Im Foyer vor dem Restaurant ist ja zu dieser Zeit oft Tumult und so ergibt sich meist ein Vorschlag eines Kollegen: „ Ich hab noch ‘ne angebrochene Flasche auf dem Zimmer, wer kommt noch mit?“ Die Runde ist schnell informiert und ein paar Schweden haben sich einfach mitspülen lassen. Man verteilt sich schnell auf den möglichen Sitzflächen, das Bettsofa muss so sechs bis sieben Plätze bieten. Sollte das obere Bett hochgeklappt sein, bieten sich natürlich Logenplätze und es passen mindestens fünf weitere Besucher ins Zimmer. Wenn wir schon bei Größenordnungen sind, die Bude war knallvoll und die angekündigte … I:Flasche schnell verdampft. Natürlich hat ein weiterer spendabler Kollege „noch was dabei“. :I … < diese Zeichen sagen dem Musiker? Na? ja, richtig! Wiederholen.

Die Zeit verrinnt, die Diskussionen werden schleppender, weil irgendwann das Schwenglisch nicht mehr so artikuliert werden kann, dass es verständliche Inhalte transportieren könnte. Dann ist irgendwann Aufbruch, das heißt, die Hotelgäste in der Umgebung sollten natürlich auch was davon haben und man will ja schließlich auch wissen, wer sein Nachbar ist. Glücklich der, der am nächsten Morgen keine Kundschaft hat oder Fahrversuche machen muss.
So ein Automatismus kann auch mutieren, wenn die Räumlichkeiten absehbar nicht ausreichen, einer das Bett runtergeklappt hat und der Stuhl vergraben ist oder das Hotelpersonal sich erkenntlich zeigen will und auch mal die Jungs einladen möchte. Dann zieht die ganze Karawane ins Dorf. Irgendwie eben. Zum Laufen zu weit und die Buslinie muss noch an der Bar erdiskutiert werden.

In einer Wohnung im Dorf hängt im Flur ein großes Brett als Gästebuch. Jeder soll sich mit einem „deutschen“ Spruch eintragen. Wir entscheiden uns für: „Schellet se net an sellere Schelle, selle Schelle schellt ned. Schellet se an sellere Schella, selle Schella schellt.“ So, das Ganze jetzt aus dem Südschwäbischen ins Nordschwedische übersetzt. Macht mindestens noch einen oder zwei weitere Besuche.

Die meisten haben schon Schuhe und Anorak an und drängen heim, bis auf ein kleines Häufchen Aufrechter, die noch Kondition haben. Da war es schlau, keine Fahrzeuge da zu lassen, sondern die Jungs zum Laufen zu animieren. OK.

Alles schläft, das Hotel ist in tiefster Ruhe – morgens um vier. Da ertönt ein den Testern, die die Zimmer zum Hof hin haben, bekanntes Geräusch. Irgendjemand wirft den Diesel eines Trucks an. Bei Kälte ist das eine Prozedur von Minuten. Man hört und – tagsüber sieht man auch – wie ein Zylinder nach dem anderen erwacht und unter infernalischem Geräusch tiefschwarzen Ruß aus dem dicken Rohr zwischen den Rädern in die heile Welt zu spucken beginnt. Den einen oder anderen Kollegen zieht die Neugier ans Fenster und so wird beim Frühstück berichtet, dass Harrys (wohlgemerkt alle hießen Harry!) Truck heute Nacht geklaut wurde, am Morgen wieder, zwar etwas unorthodox, aber auf dem Parkplatz stand.

Harry kommt trotz der nächtlichen Prozedur dennoch zum Frühstück. Zwar etwas zerknüllt, aber er kommt. Auf die Frage, wer heute Morgen seinen Diesel gebraucht hätte, kommt die Erklärung: „Ich kam aus der Siedlung auf die Hauptstraße und wusste, zum Hotel geht es bergauf. Am Schild – Arvidsjaur 85 km – kamen mir doch stärkste Bedenken, es war die falsche Richtung. Es war schweinekalt und ich war so alleine auf dem Weg vom Dorf heim, da dachte ich mir, ich fahr mich abholen.“
©Jürgen Zechmann